Die Branche muss durchlässiger werden
Fachkräfte sind eine knappe Ressource. Das hat demografische Gründe, aber auch Ursachen in der Art, wie eine Branche ihre Arbeitswelt gestaltet,
erläutern Helena Bommersheim und Mirjam Berle von Bommersheim Consulting.
Die Buchbranche hat ein Problem, Fachkräfte zu halten und zu gewinnen. Ist das ein Sonderfall dieser Branche, insbesondere im IT- und Digitalsektor?
Helena Bommersheim: Das ist kein IT-Thema, sondern ein Thema, das alle Branchen trifft. Wir müssen auch sehen, dass wir aus demografischen Gründen keine Chance haben, alle diejenigen, die rausgehen, adäquat zu ersetzen. Die Schere zwischen Renteneintritt und Erwerbseintritt geht auseinander. Da entsteht ein Gap, und die Frage ist, wie es – nicht nur – der Medienbranche gelingt, darauf eine Antwort zu geben. Wir haben zu wenig Menschen für den Arbeitsmarkt. Das trifft die Unternehmen und die Führungsteams hart.
Verlagsherstellung zum Beispiel studieren junge Leute in Stuttgart, in Leipzig und anderswo, aber die Absolventen gehen keineswegs überwiegend in die Verlage. Haben wir da nicht doch ein Branchenproblem?
Bommersheim: Ich bin da zurückhaltend. Im Bereich Produktion haben Sie natürlich ein Branchenproblem. Wir qualifizieren, sind dann aber nicht in der Lage, überzeugende Jobangebote zu formulieren. Angebote anderer Branchen scheinen attraktiver zu sein, so dass die Menschen eher dort andocken. Gerade im Bereich Herstellung verknüpfen sich viele Skills miteinander, technologische, digitale, analoge Kompetenzen. Das wird in vielenBranchen händeringend gesucht – was bedeutet, dass diese Absolventen eine große Auswahl an Jobofferten haben.
Frau Berle, Sie haben nach Ihrer Zeit bei Thalia bei einem Reifenhersteller angeheuert, später beim Deutschen Fußball-Bund. Was war Ihr Motiv, die Buchbranche zu verlassen?
Mirjam Berle: Mein Wunsch nach Weiterentwicklung. Ich bin nicht gegangen, weil ich die Branche nicht mehr mochte, im Gegenteil. Für mich war entscheidend, in den Positionen, in die ich gewechselt bin, hinzuzulernen, gestalten und wirken zu können. Diesen Weg gab es in der Medienbranche in der Form für mich so nicht.
Warum nicht?
Berle: Wenn ich mich verändere, mache ich diese Veränderung am liebsten so, dass das Wasser, in das ich springe, kalt genug ist, um mich bewegen zu müssen. Mein Metier ist die Unternehmenskommunikation. Die ist in der Buchbranche nach meiner Wahrnehmung stark inhaltsorientiert. Mein Interesse liegt jedoch darin, gemeinsam mit der Unternehmensführung Veränderung zu begleiten und kommunikativ auch durch Krisenzeiten zu führen.
Kommt das Thema Change in der Buchbranche zu kurz?
Bommersheim: Ich glaube, dass es ein Bewusstsein dafür gibt, wie notwendig Veränderungen sind. Jedoch sind wir an vielen Stellen noch nicht an dem Punkt, dass wir es auch in die Umsetzung bringen. Überall reden wir davon, dass wir die Silos einreißen müssen, mehr Kollaboration wagen, Räume schaffen für Neues. Was mir immer wieder auffällt: Die Durchlässigkeit, die sich Menschen für ihre persönliche und berufliche Weiterentwicklung wünschen, gestattet ihnen die Branche noch nicht.
Haben Sie ein Beispiel?
Bommersheim: Wenn wir etwa in der Konsumgüterbranche über Produktentwicklung reden, wird das ganzheitlich gedacht: von der Produktentwicklung über Zielgruppen bis zur Vermarktung. Wir in der Medienbranche trennen das immer noch zu sehr. Kommt jemand aus der Vermarktung und sagt, ich würde gerne mal im Lektorat oder in der Redaktion arbeiten, dann gibt es meistens noch diese gläsernen Türen; man kann reinschauen, aber man kann sie nicht wirklich öffnen. Wir sind noch zu starr in der Beschreibung von Positionen. Die Ressourcen, die die Menschen haben und die sie für sich persönlich entwickeln wollen, müssen wir sehen lernen und ernst nehmen.
Berle: Ich bin ein sinngetriebener Mensch. Für mich ist es wichtig, dass die Arbeit, die ich mache, meinen Werten gerecht wird. Kommunikation mache ich, weil mir das Ziel dahinter wichtig ist: Etwas zu verändern, Menschen auch in höchsten Führungspositionen durch schwierige Phasen zu begleiten. Und da hat Helena Bommersheim einen wichtigen Punkt: Das Reduziertwerden auf eine Fachkompetenz (was übrigens in anderen Branchen ganz ähnlich passiert) und das Nichtsehen von 360-Grad-Eigenschaften, die eine Person mitbringt – das ist ein limitierender Faktor.
Bommersheim: Wir brauchen die Verbindung von Fachkompetenz und Sinnbedürfnis. Vor diesem Hintergrund sollten wir unser Narrativ überdenken.
Was, glauben Sie, ist denn im Augenblick das Narrativ der Branche?
Bommersheim: “Wir tun das Richtige. Wir sind auf der guten Seite.” – Nur, das reicht nicht mehr aus. Ich glaube auch nicht, dass wir mit solch einer Selbstbeschreibung alle Mitarbeitenden im gesamten Unternehmen mitnehmen. Genauso wenig verfängt sie extern.
Nehmen Sie das aus Ihrer Außenperspektive auch so wahr, Frau Berle?
Berle: Von außen nehme ich eher eine klagende Tonalität wahr. Die Menschen fühlen sich jedoch nicht zu den Klagenden hingezogen. Das macht ihnen wenig Lust darauf, in die Branche zu kommen. Wie wäre es, wenn wir mehr positive Botschaften senden? Zum Beispiel: Wir gestalten die Welt in Wort und Tat und nehmen Einfluss auf die Welt von morgen. Das betrifft die Tonalität. Aber was wäre unser inhaltliches Angebot?
Bommersheim: Die Botschaft des Mitgestaltens der Zukunft ist ein guter Impuls. Noch ein anderer Gedanke kommt hinzu: Es geht auch um Selbstbefähigung und Selbstwirksamkeit. Eine Kollegin von mir nennt das “den Raum halten”.
Was meinen Sie mit selbstwirksam?
Bommersheim: Ein Beispiel: Nach der Absage der Leipziger Buchmesse haben sich schnell Menschen zusammengefunden und sind gemeinsam wirksam geworden. Sie haben eine gestaltende Haltung gezeigt und damit in der eher negativ konnotierten Situation die Chance gesehen und sie mutig genutzt. Das ist vorbildliche Selbstwirksamkeit.
Die, die jetzt in Leipzig etwas auf die Beine stellen, kommunizieren leidenschaftlich und agil, andere ziehen es vor, professionelle Pressemitteilungen zu versenden. Laufen wir Gefahr, das, was Kommunikation leisten könnte, durch Überprofessionalisierung zu verfehlen?
Bommersheim: Kommunikation ist eine Königsdisziplin. Das gilt für jedes Unternehmen und für alle im Unternehmen, denn jede und jeder kommuniziert. Diese Königsdisziplin verändert sich so schnell, dass wir mit unseren erlernten Methoden kaum noch hinterherkommen. Die gesamte Organisation sollte daran mitwirken, dass sich hier etwas ändert.
Berle: Meine Antwort wäre, dass wir die Kommunikation eben gerade nicht im nötigen Maß professionalisiert haben – deshalb wirkt sie nicht mehr wie gewünscht. Ich spreche gern von Kommunikationsperformance. In dem Begriff stecken die Aspekte Leistung und Wirksamkeit. An vielen anderen Stellen fragen wir uns doch auch, was wir tun müssen, damit das Ergebnis wirksam ist. Die Kommunikation als Kompetenz betrachten wir immer noch gerne wie einen selbstverständlichen Soft Skill, den wir sowieso beherrschen und nicht lernen brauchen – dabei ist sie längst in die Top-Liga der Hard Skills aufgestiegen.
“Leipzig liest trotzdem” performt ganz gut, oder?
Berle: Absolut. Die Aussage spiegelt im Umgang mit dieser Krisensituation sowohl Haltung als auch Handlung wider. Kommunikation ist inzwischen sehr viel menschlicher geworden; was für eine Führungskraft enorme Verantwortung bedeutet. Als Person wird sie sichtbarer, auch angreifbarer. Das entspricht nicht allen, aber dem müssen sich Führungspersönlichkeiten aktiv stellen, um glaubwürdig zu sein.
Ist gute Kommunikation eine Frage der Begabung, oder kann sich das jede und jeder aneignen?
Bommersheim: Kommunikative Fähigkeiten stehen für Führungsposition zunehmend im Mittelpunkt. Umso wichtiger ist es, sich diese Kompetenzen zu erarbeiten, wenn Sie damit wenig bis keine Erfahrung haben.
Kann ein Unternehmen sich gute Kommunikation schnell antrainieren?
Bommersheim: Es geht nicht nur um die Geschwindigkeit, sondern vielmehr um die Konsequenz in der Herangehensweise. Es geht um eine kulturelle Veränderung. Wenn ich am Gras ziehe, wächst es nicht schneller. Kommunikationskultur im Unternehmen zu ändern, kann auch heißen, dass ich als Führungskraft mal die Bühne frei mache für andere, die es vielleicht schon heute besser können. Natürlich muss man das koordinieren und moderieren. Statt angstbesetzt und mit großer Zurückhaltung, sollten wir empathisch, mutig und bedürfnisorientiert kommunizieren. Hierfür müssen Sie sich insbesondere für die Menschen interessieren. Oberflächlich geht das nicht.
Berle: Bei Goodyear haben wir gesagt, “A fool with a tool is still a fool”. Soll heißen: Sie mögen noch so viele Methoden und Techniken der Kommunikation beherrschen – solange Sie nicht wissen, wer Ihr Gegenüber ist und wie er oder sie tickt, nutzt Ihnen das gar nichts. Kommunikation funktioniert nur im Zusammenhang mit einer Leidenschaft für Menschen.
Ihr Unternehmen bietet Beratung, hilft bei der Personalbeschaffung. Wie wollen Sie dazu beitragen, dass die Buchbranche sich um die Talente,die sie so dringend braucht, erfolgreicher bewerben lernt?
Bommersheim: Wir wollen dazu beitragen, dass sich das Bewusstsein in den Unternehmen verändert. Das ist kein Selbstläufer, deshalb werden wir Angebote machen, wie man diesen Bewusstseinswandel initiiert. Wir wollen helfen, eine Unternehmensmarke als Arbeitgeber klar und glaubwürdig zu vermitteln. Wir brauchen die Sichtbarkeit von Schlüsselpersonen nach innen und nach außen, es geht um Individualität anstelle austauschbarer Floskeln. Wir wollen sensibilisieren dafür, dass Menschen besser eingebunden werden, dass Kompetenzen im eigenen Haus gesehen und gefördert werden. Eine Chance kann darin liegen, dass die Medienbranche durchlässiger wird; dass wir verstehen, Menschen haben nicht nur ihre Fachkompetenz, sondern eine Vielfalt von Fähigkeiten, die es anzuerkennen, anzunehmen und zu entwickeln gilt. Und wir sollten lernen, bei der Art, wie wir unsere Arbeit organisieren und welche Arbeitsbedingungen wir anbieten, nach den Bedürfnissen der Menschen zu schauen. In diesen traurigen Tagen kommen auf der Flucht vor dem Krieg viele Menschen nach Deutschland, überwiegend Frauen, oft hoch qualifiziert.
Im Moment geht es darum, ihre Aufnahme zu organisieren und ihnen beizustehen. Aber ist es langfristig nicht geboten, unter diesen Menschen viele wertvolle Fachkräfte zu vermuten und auf sie zuzugehen?
Bommersheim: Ein klares Ja! Gerade habe ich mit Berliner Kollegen gesprochen, die bereits begonnen haben, gemeinsam mit Kunden darüber nachzudenken. Der Blick fiel zuerst in den Tech-Bereich, in die Start-up-Welt. Im ersten Schritt soll es eine Jobbörse geben, für Entwickler und andere IT-Fachkräfte; da spielt die Sprachbarriere kaum eine Rolle – alle sprechen Englisch.
Berle: Nach meinem Eindruck sprechen erstaunlich viele Menschen, die jetzt aus der Ukraine zu uns kommen, auch Deutsch. Denen können wir ebenfalls ein Angebot machen. Wenn wir uns ihnen und ihren Fähigkeiten öffnen, wäre das ein gutes Signal. Gerade in Krisen ist es wichtig, Denkmuster bewusst aufzubrechen und kreativ zu handeln.
Das Interview führte Torsten Casimir